Ende Januar befindet sich Deutschland immer noch in einem Lockdown zur Bekämpfung der SARS-COV-2 Pandemie. Neben nicht-pharmazeutischen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie starten seit Ende Dezember weltweit Impfprogramme gegen SARS-COV-2. In Europa und den USA werden die mRNA Impfstoffe von Biontech/Pfizer und Moderna mit einer hohen Wirksamkeit von 94% – 95% derzeit eingesetzt.
Die bisherige Corona SEIR Workbench modelliert ein SEIR-Modell zur Vorhersage der Corona Pandemieentwicklung. Allerdings berücksichtigt dieses keine geimpften Personen. Daher haben wir Impfungen mit einer neuen SEIRV-Modellierung in der Version 2.0 der Corona SEIR Workbench implementiert.
Es gibt verschiedene Berechnungsgrundlagen, um geimpfte Personen innerhalb eines SEIR-Modells zu berücksichtigen. So kann das SEIR-Modell um ein zusätzliches Kompartiment „Vaccinated“ für geimpfte Personen zu einem SEIRV-Modell erweitert werden.1 Nach einer Impfung wandern Personen aus dem „Susceptible“ Kompartiment in das „Vaccinated“ Kompartiment und können dort nicht mehr infiziert werden.
Diese Sichtweise ist stark vereinfacht, da zwei Impfungen in einem zeitlichen Abstand von 3 bzw. 4 Wochen stattfinden und der Impfschutz sich graduell über mehrere Wochen Wirksamkeit aufbaut. Ein teilweiser Impfschutz besteht frühestens 12 Tage2 nach der ersten Impfung. Daher können geimpfte Personen nicht komplett aus der Menge der anfälligen Personen herausgenommen werden.
Um die zu berücksichtigen kann das „Vaccinated“ Kompartiment als Teilmenge der anfälligen Personen im Kompartiment „Susceptible“ betrachtet werden:
Mit diesem Modell können anfällige Personen nach einer Impfung zu einem von der Wirksamkeit abhängigen Prozentsatz immer noch infiziert werden. Das SEIRV-Modell besteht damit ausfolgenden Kompartimenten:
Die Mathematik des SEIRV-Modells
Im Vergleich zum SEIR-Modell erfolgt im ersten Schritt die Verteilung aller geimpften Personen aus dem Kompartiment S in das Teilkompartiment V. Es wird eine konstante Zahl an Impfungen pro Tag angenommen. Aus diesem Grund wird die Bevölkerungszahl N als Bezugsgröße verwendet und mit einem konstanten Faktor multipliziert:
Die so reduzierte Menge der anfälligen Personen im Kompartiment S wird dann wie im klassischen SEIR-Model durch infektiöse Personen im Kompartiment I infiziert.
Die roten Terme beschreiben die Modifikationen in Bezug zum SEIR-Modell ohne Impfungen.
Von der Gesamtzahl der anfälligen Personen, werden die geimpften Personen mit einem Faktor für die Impfwirksamkeit abgezogen, da diese Personen nicht infiziert werden können. In einem SEIR Modell ohne Berücksichtigung von Impfungen würden hier alle Personen aus dem Kompartiment S verwendet.
Die Änderung der infektiösen Personen ΔE ergibt sich aus der Inkubationsdauer und ist mit der Änderung der infektiösen Personen im SEIR-Modell identisch:
Infektiöse Personen wandern wie im SEIR-Modell nach überstandener Krankheit oder nachdem diese isoliert wurden, in das Kompartiment R. Die Anzahl ΔI ergibt sich wie bisher aus der mittleren Infektiositätsdauer:
Mit diesen Veränderungen lassen sich nach einer Zeiteinheit die neuen Personenanzahlen S‘, E‘, I‘, R‘ und V‘ in den einzelnen Kompartimenten S, E, I, R und V mit den folgenden Formeln berechnen:
Die verwendeten Symbole in den Gleichungen stehen für folgende Werte:
Die Workbench
Tägliche Impfzahlen werden über Our World in Data der Oxford Martin School und University of Oxford ermittelt.
Unterhalb der Einstellungen für die Basisreproduktionszahl können jetzt Angaben zu Impfungen gemacht werden. Auf der Basis der tatsächlichen Impfungen wird der Tagesmittelwert und der Start der Impfkampagne berechnet. Sollten in dem Land noch keine Impfungen durchgeführt worden sein, oder keine Daten dazu existieren, so werden hier Standardwerte angezeigt. Die Anzahl der geimpften Personen pro Tag kann über einen Schieberegler geändert werden.
Zusätzlich wird die Impfwirksamkeit angegeben. Diese gibt an, wie hoch der Anteil geimpfter Personen ist, der nicht mehr infiziert werden kann. Auf der Basis der Zulassungsdaten von Biontech und Moderna wird hier standardmäßig 95% angezeigt. Dieser Wert kann ebenfalls über einen Schieberegler angepasst werden. Als letztes kann der Start der Impfkampagne manuell geändert werden.
Ergebnisse der Workbench
Seit dem 27.12.2020 wird in Deutschland mit dem Biontech Impfstoff geimpft. Die Workbench verwendet ein vereinfachtes Modell, bei dem einfach der Mittelwert der Impfungen pro Tag verwendet wird:
Stand 17.1.2021 beträgt die mittlere, tägliche Anzahl an Impfungen pro Tag ca. 52.000 Personen in Deutschland. Bei einem geschätzten R0-Wert von 1,1 würde das Impfprogramm zu fallenden Inzidenzzahlen ab Mitte April beitragen und bis Ende Juni die täglichen Infizierten auf ca. 12.000 pro Tag reduzieren: Dies entspricht einer Inzidenzzahl von ca. 100 Infizierten auf 100.000 Personen in 7 Tagen. Interessanter weise tritt ein positiver Effekt der Impfungen weit vor der bisher vermuteten Schwelle von 60%-70% der Bevölkerung für die Herdenimmunität ein, wie in der Presse bisher veröffentlicht.3 So kompensiert das Impfprogramm bereits ab einer Zahl von 4-5 Mio. Personen einen R0-Wert von 1,1.
Der entscheidende Faktor innerhalb des Impfprogramms ist die Zahl der täglich geimpften Personen, die einen erheblichen Einfluss auf die Wirksamkeit in der Pandemie hat. Der aktuelle Mittelwert von 52.000 Personen ist sicherlich der im Moment nur geringen Verfügbarkeit des Impfstoffs und der aufwendigen Organisation der Impfungen in Alten- und Pflegeheimen geschuldet, die aufgrund ihrer Vulnerabilität als erste geimpft werden. Trotzdem steigen die Impfzahlen jeden Tag und haben am Freitag, den 14.1.2021 ein Maximum von ca. 98.000 erreicht. Daher ist von ein viel höheren Impfrate in den nächsten Wochen auszugehen. Wenn die mittlere Impfrate z.B. bei 400.000 Impfungen pro Tag liegt, so ist der Effekt auf die Pandemie deutlich stärker:
In diesem Fall wir trotz des höheren R0-Wertes von 1,3 eine Inzidenzzahl von 12.000 Infizierten pro Tag bereits bis Mitte März erreicht und Ende April fällt die 7-Tages Inzidenz für 100.000 Einwohner auf einen Wert unter 10.
Alles in allem stellen Impfprogramme einen wesentlichen Faktor in der Kontrolle der Corona-Pandemie dar. Ausschlaggebend ist hier eine Impfung möglichst vieler Personen in möglichst kurzer Zeit. Ein Impfprogramm wirkt sich additiv zu anderen, nicht-medizinischen Maßnahmen aus, die den R0-Wert reduzieren. Die Wirkung werden bereits bei einer Impfabdeckung von 5% der Bevölkerung sichtbar. Diese wird jedoch bei einer mittleren Impfanzahl von ca. 52.000 Personen erst Mitte März erreicht.
Die modellierten Infektionszahlen in dem verwendeten SEIRV-Modell sind jedoch noch sehr vereinfacht und Impfungen könnten präziser berücksichtigt werden. In jedem Fall sollte der Versatz von 12 Tagen zwischen Impfung und erster Immunisierung bzw. 28 Tage bis zur vollständigen Immunisierung bei der Interpretation der Infektionszahlen berücksichtigt werden. Darüber hinaus unterscheiden sich die Wirksamkeiten verschiedener Impfstoffklassen. Die hohe Wirksamkeit der mRNA-Impfstoffe wird von Vektor-basierten Impfstoffen wahrscheinlich nicht erreicht.
Das Klassenmodell der Workbench
Das ursprüngliche Klassenmodell wurde um die Klassen für das SEIRV-Modell erweitert:
Die Grundsätzliche Arbeitsweise hat sich hierbei nicht verändert. Für das neue SEIRV-Modell kann die Anzahl der geimpften Personen in jedem Schritt über die Vaccinated-Eigenschaft eingestellt werden. Wie vorher wird das Modell über die CalcAsync-Methoden berechnet und die einzelnen Datenpunkte in Datenserien gespeichert.
Das gleiche Verfahren wurde für die R0-Solver-Klassen angewendet und diese um SEIRV-Varianten erweitert:
Die Ermittlung der historische Infektionszahlen des Center for Systems Science and Engineering der Johns-Hopkins wurden nicht geändert:
Das gleiche gilt für RKI-Daten zu R0-Werten:
Daten über geimpfte Personen je Land werden in der neuen Version über Our World in Data der Oxford Martin School und University of Oxford ermittelt und über GitHub abgerufen.
Ausblick
Mit dem Start von Impfprogrammen wurde das SEIR-Modell um ein Kompartiment für geimpft Personen erweitert. Da Impfungen eine erhebliche Auswirkung auf die weitere Pandemieentwicklung haben, liefert das erweiterte SEIRV-Modell genauere Voraussagen. Im Gegensatz zur genauso möglichen Berücksichtigung der Impfungen in der Basisreproduktionszahl R0 erlaubt die Verwendung eines gesonderten Kompartimentes eine klarere Trennung zwischen der Wirkung von Impfungen und nicht-medizinischen Maßnahmen.
Im weiteren Verlauf der Pandemie muss jedoch berücksichtigt werden, dass die R0 – Werte des RKI für Deutschland geringer ausfallen wie die der Corona SEIR Workbench, da diese aktuell den Rückgang von Infizierten durch Impfungen beinhalten und nicht wie das SEIRV-Modell diese vorher herausrechnen.
Wie schon die Version 1.0.1 ist die neue Version 2.0.0 der Corona SEIR Workbench eine Infrastruktur und wartet auf den nächsten Einsatz. Wir sind gespannt, welche Einsatzmöglichkeiten Sie finden.
Downloads
Corona SEIR Workbench 2.0.0 | 3,06 MB | Corona SEIR Workbench Version 2.0.0 Programm, erfordert .NET Core 5.0 Runtime |
Aktuelle Version:
Corona SEIR Workbench 2.3.0 | 2 MB | Corona SEIR Workbench Version 2.3.0 Programm, erfordert .NET Core 5.0 Runtime |
Corona SEIR Workbench 2.3.0 Setup | 119 MB | Corona SEIR Workbench Version 2.3.0 Setup mit Runtime |
Weitere Informationen
- Corona SEIR Workbench Quellcode auf Github
- Corona SEIR Workbench 2.0.0 Übersicht
- Englisch Version of Corona SEIR Workbench 2.0.0 Overview
- English Version on Code Project
- Corona SEIR Workbench 1.0.1
- Bekämpfung von Superspreading während der COVID-19-Pandemie
- Download .NET Core 5.0 Runtime
- Softwareentwicklung
- .Net mit C#
1. Safarishahrbijari A, Lawrence T, Lomotey R, Liu J, Waldner C, Osgood N. Particle filtering in a SEIRV simulation model of H1N1 influenza. In: Winter Simulation Conference (WSC), 2015. IEEE; 2015. p. 1240–1251.↩
2. Polack F. et al., 2020, Safety and Efficacy of the BNT162b2 mRNA Covid-19 Vaccine. N Engl J Med 383:27, 2603-2615.↩
3. Durchimpfungsrate – Wie viel Prozent der Bevölkerung muss geimpft werden, um ein „normales Leben“ zu ermöglichen? – Nachrichten – WDR .↩